Ralph Schipke ist Redakteur von GRUENDER-MV.DE. Neben „harten Fakten“ aus Mecklenburg-Vorpommern liefert er im Interview inspirierende Gründungsgeschichten, die beweisen, dass Innovationen keine Großstadt brauchen und dass im ländlichen Raum durchaus ein dichtes Gründungsnetzwerk besteht.
In welchen Bereichen entwickelt sich die Gründungsszene in Mecklenburg-Vorpommern momentan besonders gut?
An den Uni- und Hochschulstandorten gibt es einige bemerkenswerte Startups im medizinischen Bereich. Da macht sich zum Beispiel eine Dialyseschwester in Rostock mit funktionaler Patientenkleidung selbstständig. Ein Startup am Strelasund tüftelt an einer „Schwester Alexa“ für das Krankenhaus der Zukunft und sagt lebensgefährlichen Krankenhauskeimen den Kampf an. In Greifswald erfinden junge Wissenschaftler ein Plasmapflaster, das aus dem Kinofilm „Star Wars“ stammen könnte.
Das klingt ja schon mal nach sehr interessanten und vielversprechenden Geschäftsideen. Haben Sie weitere „Gründungsvorbilder“ aus Mecklenburg-Vorpommern, von denen Sie berichten möchten? Was war Ihre Lieblingsgründung der letzten drei Jahre?
Das „MediTex“-Unternehmen von Fanny Fatteicher aus Rostock, das seit über fünf Jahren medizinische Funktionswäsche entwickelt, die das Leben vieler Patienten erleichtert. Gerade tüfteln sie dort an einem alltagstauglichen Rucksack für Kunstherzsysteme.
Seit einiger Zeit gilt Rothenklempenow in Vorpommern als Geheimtipp unter den Food-Startups, spätestens seit das junge Bio-Unternehmen „Lunch Vegaz“ in diesem Dorf seine Produktionsstätte eingerichtet hat. Das Team produziert als Pionier bio-vegane Fertigprodukte nach Rezepten aus aller Welt, die an bundesweit agierende Handelsketten oder Berliner Kitas geliefert werden.
„Fiskado“ bietet direkt an der Ostsee ein Internet-Portal von Anglern für Angler. Bei Gründer Karl Kliefoth in Roggentin vor den Toren von Rostock kann ich als Urlauber von daheim aus meinen Angelschein buchen und erfahre gleich dazu, wo die Fische am besten beißen, egal ob in der Ostsee oder in der Mecklenburgischen Seenplatte, ob in Mecklenburg-Vorpommern oder in Brandenburg.
Nicht zu vergessen wäre Benjamin Fredrich, der in Greifswald Politik und Geschichte studiert hat und schließlich ein Magazin namens „Katapult“ erst einmal als Onlinemagazin gründete. Seit Frühjahr 2016 erscheint es alle drei Monate als gedruckte Ausgabe mit steigender Auflage. Trockene Statistik kann echt so cool sein. Seine junge und unabhängige Redaktion tritt entgegen allen Weissagungen und Orakel den Beweis an – Print lebt! Und mit gut aufbereiteten Fakten ist Geld zu verdienen.
Wie ist die aktuelle Gesamtsituation in puncto Gründungen in Ihrer Region?
Es ist im Nordosten ein kleines und feines Gründer-Ökosystem herangewachsen. Nach meiner Beobachtung haben wir hier doch sehr robuste Gründungen. Die Gründerszene in Mecklenburg-Vorpommern ist außergewöhnlich – das sagt zum Beispiel Hanna Bachmann, selbst Mitgründerin der digitalen Versicherung „hepster“ und Regionalsprecherin beim Bundesverband Deutsche Startups. Sie schätzt ein, die wenigsten hier könnten „weich gründen“. In Berlin, Hamburg, Leipzig oder München kann sich jeder Gründungswillige mit einer Geschäftsidee in einen Innovations-Hub oder einen Startup-Inkubator begeben und sich dort alles beibringen lassen – über Fördermittelbeantragung, was ein Pitch Deck ist, wo es Venture Capital gibt oder ganz einfach, wie ein richtig guter Businessplan geschrieben wird. Und in so einem „Brutkasten“ vernetzt man sich auch gleich mit einem Dutzend anderer Startups.
Im Flächenland Mecklenburg-Vorpommern werden Startups nach Einschätzung von Frau Bachmann nicht ganz so umsorgt und hinter Glas und in „Watte gepackt“. Ich schließe mich ihrer Ansicht an, dass Gründer bei uns sozusagen eher „Freilandgemüse“ sind. Diese ganze „Startup-Industrie“ der Ballungszentren finden wir hier bei uns nicht. In der Regel wird bei uns bei null angefangen und man macht sein Unternehmen ganz allein groß.
Daher müssen Gründungen hier in der Region stärker, robuster und nachhaltiger sein als etwa in Großstädten. Ein weiterer Vorteil bei uns, der von allen geschätzt wird, die sich auf den Weg zur eigenen Firma gemacht haben: Eine Gründerin oder ein Gründer im Nordosten muss sich bei Politikern, Wirtschaftsverbänden, Kapitalgebern oder Fördertöpfen oder beim nächstgelegenen Co-Working-Space nicht hinter hunderten anderen anstellen. Nicht zuletzt kennt sich unsere Gründerszene landauf, landab und ist untereinander gut vernetzt: Man unterstützt sich gegenseitig, wo es geht, statt gegeneinander zu konkurrieren. Es herrscht bei uns ein wirklich gutes Gründerklima.
Und allein auf sich gestellt sind Gründerinnen und Gründer schließlich dann doch nicht. Etwa in der Mittelständischen Beteiligungsgesellschaft Mecklenburg-Vorpommern mbH – kurz MBMV – finden sie ein Unterstützer-Schwergewicht, das mit ihnen gemeinsam an die Gründungsidee glaubt. Dazu gibt es mit GRUENDER-MV.DE eine virtuelle Klammer und zugleich das Schaufenster des hiesigen Gründer-Ökosystems. Und natürlich helfen bundesweite Angebote von der KfW, natürlich auch gruenderplattform.de, enorm bei der Orientierung und den ersten selbstständigen Schritten.
Welche Ihrer Leistungen werden denn besonders von Gründer*innen nachgefragt?
Auf der einen Seite das umfassende Informationsangebot auf GRUENDER-MV.DE. Das reicht vom Musterarbeitsvertrag für potenzielle Mitarbeiter bis zur Telefonnummer des nächsten IHK-Gründerberaters oder der E-Mail-Adresse unseres Schweriner Digitalministers. Alle möglichen relevanten Informationen für die Startphase und Entwicklung der eigenen Geschäftsidee – ganz gleich, ob speziell für unser Bundesland oder bundesweite Angebote, recherchiert unsere Redaktion und stellt sie bereit.
Das wahrscheinlich am häufigsten genutzte Förderinstrument ist das MV-Gründerstipendium. Weil Mecklenburg-Vorpommern auf wirklich gute Geschäftsideen nicht verzichten kann und will, sollen innovative, erfolgversprechende Vorhaben möglichst nicht am fehlenden Startkapital für die ersten Monate scheitern. Deshalb werden diese Gründerstipendien als Hilfen zum Lebensunterhalt vergeben. Sie richten sich vorrangig an Absolventinnen und Absolventen von Hochschulen und Universitäten, die sich im Anschluss an ihr Studium mit der Umsetzung einer naturwissenschaftlich-technischen Idee, mit einem neuartigen Produkt oder einer innovativen Dienstleistung selbstständig machen.
Die andere wichtige Funktion unseres regionalen Portals ist es, tolle Gründergeschichten anderen weiterzuerzählen. Um mit Gründerporträts in Wort und Bild Mut zu machen und zu zeigen, was in Mecklenburg-Vorpommern geht. Es gibt so viele Bereiche, in denen neue Ideen gefragt sind: Dienstleistung, Tourismus und – nicht zu vergessen – die Ernährungs- und Landwirtschaft.
Unterstützen Sie auch bei der konkreten Gründung?
Gewiss, insbesondere indem wir der Gründerin oder dem Gründer eine Öffentlichkeit verschaffen und neue Ideen bekannt machen. Es gibt Anfragen von konventionellen Medien, die etwa „Rückkehrer“, die zugleich Gründer sind, suchen; oder die Startups in speziellen Regionen aus besonderen Branchen vorstellen wollen. Da helfen wir selbstverständlich gern und bringen die passenden Gründer mit den Journalisten aus nah und fern zusammen. Wir selbst begleiten und beobachten die Startups über lange Zeiträume, oft über mehrere Jahre. Schauen immer mal wieder hin, was aus der Anfangsidee geworden ist. Vermelden, wenn eine neue Finanzierungsrunde geglückt ist. Oder wenn jemand seine Geschäftsidee ändern musste, weil die Praxis gezeigt hat, dass auch die tollste Idee den richtigen Nährboden, also das passende Umfeld, braucht. Vor allem wollen wir noch mehr Leuten Mut machen, sich etwas ganz Eigenes aufzubauen.
Sie und ihr Team sind seit vielen Jahren in der Gründungsszene unterwegs. Hat sich in diesen Jahren bei den Gründungen etwas verändert?
Als wir mit GRUENDER-MV.DE anfingen, gab es vor allem die damals sogenannten Notgründungen. Dieser nicht so schöne Begriff stand für Menschen, die, von Jobverlust bedroht, aus der Not eine Tugend machten und auf „Existenzgründer umschulten“. Heute haben wir zahlenmäßig weniger Gründerinnen und Gründer. Das hat auch wieder mit dem Arbeitsmarkt zu tun. Der boomt bekanntlich. Und warum soll ich da das Risiko einer beruflichen Selbstständigkeit eingehen, fragen sich viele. Aber die es heute wagen, zu gründen, machen es aus voller Überzeugung und mit ganz viel Herzblut. Das ist doch ein positiver Trend! Oder?
Was sind die drängendsten Fragen und Themen, mit denen angehende Gründer*innen zu Ihnen kommen? Betreffen sie eher die Idee, den Businessplan oder die Finanzierung?
Etwas ganz Spezielles für Mecklenburg-Vorpommern – davon bin ich überzeugt – ist das Gründen im ländlichen Raum, abseits der Metropolen. An jeder Milchkanne quasi. Damit die Dörfer und Kleinstädte nicht abgehängt werden, gibt es gerade mehrere Förderinstrumente sowohl auf Landes- als auch auf Bundesebene speziell für diesen Sektor. Da steht aber oft nicht eindeutig drin: „Hier gibt es Kohle für Gründungen!“ Obwohl alle davon profitieren können, die etwas zur Strukturerhaltung und -entwicklung im ländlichen Raum beitragen. Da versuchen wir zu vermitteln und die Förderkulisse transparenter zu machen.
Also langfristige Finanzierung ist schon ein wichtiges Thema. An Gründungsideen mangelt es aus meiner Sicht jedenfalls nicht. Und wie ich einen Businessplan erarbeite, kann ich super bei der Gründerplattform einüben oder mit meinem Netzwerk – gern auch online – diskutieren.
Was sind die häufigsten Anfängerfehler von Gründer*innen und welche Tipps geben Sie ihnen?
Zu beobachten ist durchaus, dass Zeiträume zu knapp eingeschätzt und bemessen werden. Gründen ist – auf jeden Fall bei uns im Nordosten – auch mit Ausdauer und oft mit sehr langem Atem verbunden. Die Mühlen der Bürokratie drehen sich auch bei steifer Seebrise nicht unbedingt zügiger. Und es warten nicht an jeder Ecke Business Angels und winken mit reichlich Risikokapital. Aber ein erfolgreicher Gründer hat mir kürzlich gesagt: „Berlin ist voll und laut – Vorpommern etwas ruhiger. Das Silicon Valley sitzt ja auch nicht mittendrin in der Metropole San Francisco. Bei uns im Land gibt es viel mehr Wachstumsmöglichkeiten und kurze Wege, und die Gründer kennen sich untereinander.“ Das kann ich nur als Anregung weitergeben, sich ein Herz zu fassen und mal ernsthaft über eine Gründung in Stralsund, Rostock, Neubrandenburg, Wismar oder sogar auf dem flachen Land nachzudenken. Platz und einen weiten Horizont haben wir jedenfalls hier ausreichend zu bieten.
Wo liegen Ihrer Meinung nach die innovativsten und zukunftsfähigsten Märkte?
Immer wieder aufs Neue muss ich mich wundern, dass im historisch landwirtschaftlich geprägten Mecklenburg-Vorpommern mit seinen agrarwissenschaftlichen Hochschulangeboten und entsprechend renommierten Forschungseinrichtungen kaum innovative Agrar-Hightech-Startups zu finden sind. In dieser Sparte ist in Brandenburg oder Sachsen nach meinem Eindruck mehr los.
In Greifswald und Rostock – entlang der Ostseeküste – finden sich gerade immer mehr innovative Leute zusammen, die sich mit maritimen Themen vom hybriden und umweltfreundlichen Schiffsantrieb bis zur nachhaltigen Aquakultur befassen. Ganz sicher spannende Zukunftsthemen mit wirtschaftlichem Potenzial. Und die Digitalisierung (be-)trifft ja inzwischen jede Branche. Vom Angeln bis zum Zeitschriftenverlag. Auch in diesem Bereich gibt es hier bei uns eine Reihe spannender Startups.
Warum sind Sie Partner der Gründerplattform?
Weil diese bundesweite Plattform Dinge zu leisten vermag, wie sie uns nicht möglich sind und unser Budget sprengen würden. Und weil wir die Gründerinnen und Gründer in Mecklenburg-Vorpommern an den vielseitigen Angeboten dort unbedingt teilhaben lassen wollen.
Was gefällt Ihnen an der Gründerplattform besonders gut?
Dass ich als Nutzer ihre Angebote genau dann nutzen kann, wenn die Zeit dafür gekommen und vorhanden ist. Ich muss mich als Gründer nicht physisch (beziehungsweise persönlich) irgendwohin begeben und dazu Zeit entbehren, die ich gerade zu einem vorgegebenen Workshop- oder Schulungstermin vielleicht überhaupt nicht zur Verfügung habe. Ganz zu schweigen von langen Anfahrten.
Was kann die Gründerplattform noch besser machen?
An meine vorangegangenen Antworten anknüpfend, kann ich mir nur wünschen, dass noch stärker die Probleme und der Informationsbedarf der Leute auf dem „flachen Land“ berücksichtigt werden. Hierzulande gibt es selten „Standardgründungen“ nach Schema F. Ein Laden ist vielleicht ein Hof- oder Dorfladen mit einer sozialen Funktion und mein Publikum ist auf Regionalität aus. Oder ich brauche einen hochmodernen Online-Shop, weil mein potenzieller Kunde für ein Nischenprodukt ganz woanders sitzt als der Erzeuger.
Vielen Dank für das informative Interview!